Alt In Berlin
Alter hat viele Gesichter, Lebensformen und Möglichkeiten in Berlin,
dieser Ansammlung sehr unterschiedlicher Großstädte.
Wenn überhaupt, wird Alter öffentlich eher einseitig wahrgenommen
als defizitär, problematisch, mühselig und kostenträchtig.
Perspektivwechsel lohnen,
genau hinschauen, querdenken, nachfragen,
und manchmal hilft nur Gelächter.
dieser Ansammlung sehr unterschiedlicher Großstädte.
Wenn überhaupt, wird Alter öffentlich eher einseitig wahrgenommen
als defizitär, problematisch, mühselig und kostenträchtig.
Perspektivwechsel lohnen,
genau hinschauen, querdenken, nachfragen,
und manchmal hilft nur Gelächter.
Der Deutsche Alterssurvey definiert die zweite Lebenshälfte von 40 Jahren bis 85 Jahren, wie sieht es aus mit der Einsamkeit der über 85Jährigen? "Ein Anstieg in der Anzahl einsamer Menschen in der Bevölkerungsgruppe von 45 bis 84 Jahren ist allenfalls ein Ergebnis des Anwachsens dieser Altersgruppe." (Tesch-Römer im Interview) Zitat: „Ein Team um die Psychologin Maike Luhmann von der Ruhr-Uni Bochum, hat 2016 festgestellt, dass Einsamkeit keineswegs ein sich langsam auftürmendes Altersphänomen ist. Zwar hätten die Ältesten am meisten Probleme mit Einsamkeit. Ab 86, wenn körperliche Gebrechen und der Tod von Wegbegleitern oft Realität sind, klage jeder Fünfte darüber. Aber: Auch Menschen in der Lebensmitte (46 bis 55 Jahre, 14 Prozent) und jüngere Erwachsene (26 bis 35 Jahre, 14,8 Prozent) fühlen sich ihren Angaben zufolge häufig einsam. Am wenigsten betroffen waren in der Studie die jüngeren Alten (66 bis 75 Jahre, 9,9 Prozent). Was steht dahinter, wenn Fachleute ihre Forschungsergebnisse verkürzt darstellen? „Und die (Einsamkeits)Quote bei den 75- bis 84-Jährigen sank demnach seit 2008 sogar um rund ein Viertel - von 9,9 auf 7,5 Prozent.“ So wird Tesch-Römer im Faktenfinder zitiert. Aus der danach aufgeführten Tabelle zeigt sich, dass nicht seit 2008, sondern zwischen 2008 und 2014 ein solches Absinken registriert wurde. Können Vereinsamte mit Fragebögen per Post überhaupt erreicht werden? In Berlin werden 85Jährige und Ältere vor ihrem Geburtstag vom Bezirksamt angeschrieben, weil man ihnen mit einem Besuch durch ein_n Ehrenamtliche_n zum Geburtstag gratulieren möchte und dafür ihr Einverständnis braucht. Gut ein Drittel dieser Anfragen werden regelmäßig von den Jubilar_innen nicht beantwortet. Zu widerlegen wäre also die Hypothese, dass der Deutsche Alterssurvey in ähnlicher Weise wie die Bezirksämter die Zielgruppe der Einsamen generell nicht im gleichen Maße erreicht, wie ihr realer Anteil an der Bevölkerung ist. Die Feststellung von Tesch-Römer, dass die Zahlen des Alterssurvey denen des Microzensus „wo jede_r antworten muss“ entsprächen, ist zumindest fragwürdig, da diese Auskunftspflicht bei Verweigerung der Auskunft bei Menschen im Rentenalter mit großer Wahrscheinlichkeit eher nicht weiter verfolgt wird. Ist die – berechtigte – Sorge, mit dem nun endlich stattfindenden Diskurs von Alterseinsamkeit diese zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden zu lassen, ein guter Grund, den Fakt als solchen zu ignorieren und wie bisher nichts dagegen zu unternehmen? „Viele Wissenschaftler warnen jedoch davor, die Gefahr von Alterseinsamkeit zu überschätzen - auch, weil sie fürchten, dass eine solche Angst zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden könnte.“ Also: Selbst wenn die von Tesch-Römer bezifferten 8-10% die Realität exakt beschreiben sollten, sind das zu wenige, um sich dieser Realität von Einsamkeit und deren sozialen und gesundheitlichen Folgen auch in Deutschland endlich ernsthaft zu widmen?
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Ich habe wieder einmal etwas gelernt. Schmerzhaft, anstrengend, mühsam. So zu lernen, scheint für mich die nachhaltigste Form zu sein, mir Wissen anzueignen. Wie ich es dieses Mal geschafft habe? Da gab es Schlüsselereignisse – ein Nachbar, der drei Monate nach seinem Tod in seiner Wohnung nebenan aufgefunden wurde, nachdem ich die Wohnungsverwaltung auf die Fliegeninvasion in meinem Zuhause aufmerksam gemacht hatte. Es gab den 85Jährigen am Sorgentelefon, der mich fragte, warum er noch leben solle, nachdem sich die Reihen um ihn herum geleert hatten. Es gab die Erkenntnis, dass der Deutsche Alterssurvey (DEAS) keine relevanten Aussagen über die Lebensverhältnisse von Menschen über 80 treffen kann. Weil es zu aufwändig scheint, diese so zu befragen, wie die in den Altersjahrgängen von 40-75. Und es gab das Ergebnis einer Studie aus Köln, dass etwa 40% der Älteren nicht wissen, was es in ihrer Nachbarschaft an Angeboten für sie gibt. Das trieb mich um, bis ich auf ein Projekt in England stieß, mit dem eine gute Lösung für diese Probleme gegeben schien. Ich fuhr hin, fragte nach und beschloss, so etwas hier anzuschieben. Ich suchte und fand Menschen, die ich dafür begeistern konnte. Menschen, die bereit waren, im Rahmen ihrer Möglichkeiten mit mir daran zu arbeiten. Mein Fehler – es gelang mir nicht, Verantwortung und Arbeit ausgewogen auf viele Schultern zu verteilen. Ich hinterfragte nicht, was sich bei sehr unterschiedlichen Motivationen letztlich auch an Konflikten mit mir und untereinander in diesem zusammen gesuchten und immer wieder auch verändernden Freiwilligenteam entwickeln würde. Es war mir nicht klar, dass ein soziales Projekt, das der Fürsorge für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe dienen soll, auch Erwartungen an soziales Verhalten und Bedürftigkeiten innerhalb der Gruppe weckt, die aus dem Anliegen des Projektes herrühren. Für deren Erfüllung ich scheinbar die alleinige Verantwortung trug. Freie Gruppen konstituieren sich um ein gemeinsames Ziel, eine gemeinsame Idee herum. Ist das Ziel erreicht oder verliert die Idee ihre Bindungskraft, löst sich die Gruppe auf, oder Einzelne gehen. Fliehkräfte können aus Konflikten entstehen und es ist eine Frage von Selbstfürsorge, sich als Einzelne*r von einer Gruppe zu trennen, wenn Konflikte nicht besprechbar erscheinen oder zu anstrengend werden. Solche Konflikte entstehen einerseits durch Rahmenbedingungen von außen (Zeitmangel, Geldmangel, Raummangel, Tabus und fehlende belegbare Zahlen dazu, Widerstände im öffentlichen Raum…) und andererseits durch Reibungen im Team. Wie kann man es gut organisieren, dass sich diese nicht auf eine Person fokussieren, an die dann die Erwartung gerichtet wird, beides irgendwie und gut zu Lösungen zu führen? Wie auch immer dieses „gut“ antizipiert wird?
In diese Falle bin ich getappt. Die erste Krise konnten wir im Gespräch der unmittelbar Beteiligten bearbeiten – initiiert von der Kollegin, die ein Problem mit mir und meiner Herangehensweise hatte. Nach drei Jahren freiwilliger Arbeit der Gruppe gelang dann es vor einigen Monaten, das Projekt in die erste Umsetzungs- und Professionalisierungsphase zu befördern. Ziemlich gleichzeitig stiegen kurz nacheinander zwei Freiwillige aus, die über die Kompetenzen für ein wichtiges Unterthema im Projekt verfügten. Noch ein Fehler – gefangen in der stetig wachsenden Sacharbeit und den Problemen im Außen des Projektes habe ich ihre Signale nicht ernst genug genommen und keine angemessene Form gefunden, das mit ihnen zu bearbeiten. Dazu kam statt dessen eine Dritte, die diese Signale wahrnahm und auf ihre eigene Weise darauf reagierte. Der erste Kollege teilte die Gründe für seinen Ausstieg dem zweiten mit. Der zweite gab seine Gründe mir bekannt, während und unmittelbar nach seinem Rückzug. Mit beiden kommunizierte die Dritte im Spiel, bis beide die Kommunikation mit ihr beendeten. Mit dieser Dritten nahm ich an zwei einvernehmlich vereinbarten Mediationsterminen teil mit professionellen Mediatorinnen. Dabei zog sich dann auch die Dritte ohne weitere Angabe von Gründen gegenüber dem Team zurück. Mir blieb die Aufgabe, alle drei Rückzüge im Team bekannt zu geben, ohne auf deren Gründe eingehen zu können – man spricht ja nicht über Abwesende. Im Freiwilligenteam blieben damit Lücken, physisch und mental, an die sich unausgesprochene Vermutungen und Verantwortungszuweisungen knüpften. Jetzt hat eine der vier festen Mitarbeiterinnen nach zwei Monaten ihrer Probezeit eine Gelegenheit beim Schopf gepackt, anstelle des befristeten Jobs im Projekt eine unbefristete Stelle beim Träger zu bekommen. Was für sie eine Chance ist. Nicht verschwiegen werden soll, dass wir Differenzen hatten, von denen ich annahm, dass wir sie mit einem klärenden Gespräch und gegenseitigem Feedback nach ihren ersten fünf Arbeitswochen bearbeitet hatten. Ein Irrtum. Schwer hinnehmbar ist dagegen, dass meine Vorgesetzte beim Träger den ganzen Vorgang befördert/begleitet hat, ohne mich spätestens bei der Terminsetzung für den Wechsel zu beteiligen. Sie hat es der Mitarbeiterin überlassen, mir die vollendete Tatsache mitzuteilen. Sie scheint – wenigstens nach den Angaben der Mitarbeiterin – auch sehr interessiert daran zu sein, dass diese umgehend ihre neue Stelle antritt. Ganze vier Arbeitstage blieben so für die Übergabe der Aufgaben dieser Mitarbeiterin. Dazu kommt der Verlust von fast 30% der Arbeitskraft für die Umsetzung und nachhaltige Sicherung des Projektes. Nach dreieinhalb Jahren bin ich jetzt an dem Punkt, selbst auszusteigen. Noch kann ich es nicht, weil wieder einmal im Umfeld Dinge geschehen, die den Start des Angebotes noch in diesem Jahr realisierbar erscheinen lassen. Meine Deadline - 1.9.2017 - wird jedoch durch die Ereignisse, meine persönliche Erschöpfung und durch meine rapide sinkende Motivation bestätigt. Das Gelernte? Es genügt nicht, Menschen zu finden, die (nur?) mitmachen wollen. Das gemeinsame Interesse an Idee und Projekt genügen nicht, auch persönliche Befindlichkeiten aufzufangen. Die Balance zu finden zwischen den zeitlichen Anforderungen der inhaltlichen Arbeit, den unterschiedlichen sozialen Erwartungen von Freiwilligen und dem knappen Zeitbudget, das für beides zur Verfügung gestellt wird, gleicht einer Quadratur des Kreises. Für mich ist es die totale Überforderung, neben der fachlichen Arbeit und Koordination derselben auch die Beziehungsarbeit mit den Einzelnen und der Gruppe im notwendigen Umfang zu leisten, ein den jeweils persönlichen Erwartungen des/der Einzelnen angemessenes Maß an Wertschätzung für diese Leistungen zu erbringen. Wie weit ist das überhaupt ausschließlich meine Aufgabe als Initiatorin/Zugpferd? Wie weit ist das leistbar und von wem? Bei einem nächsten Mal muss ich das immer wieder klären und auch klären lassen. Schaun wir mal... Manchmal scheint alles daneben. Da hänge ich fest in Abläufen, wo mir die Kontrolle entgleitet, alles schief zu gehen scheint, der Frust an mir frisst. Da droht eine Zukunft, wo die Weltmeere ansteigen, Extremwetterlagen zunehmen, Tornados in Brandenburg Äcker und Dachziegel in die Höhe zerren und anderswo fallen lassen. Wo Schlammlawinen Dörfer verschütten, meine Stadt in Hitzewellen versinkt. Sommer, in denen alte Leute vergessen in ihren nachts nicht mehr abkühlenden Wohnungen unbemerkt sterben und liegen bleiben. Wo mächtige Menschen, mehr oder weniger demokratisch gewählt, in blinder Machtbesoffenheit auf kurzfristigen Maximalprofit gerichtet achtlos die Lebensgrundlagen unserer Nachkommen vernichten.
Das löst Gefühle schierer Hilflosigkeit aus, wo ich auf Autopilot funktioniere, um nicht darin hängen zu bleiben. Wo die Autopiloten anderer neben mir und anderswo in ihrem achtlosen absurden Funktionieren alles Erschreckende und Lähmende unermesslich zu verstärken scheinen. Wo die kleinen und großen Katastrophen eskalieren und irgendwann unvermeidbar werden. Wo denkbare Auswege sich meiner Wahrnehmung verschließen. Da gibt es dann diese Momente. Ich bleibe an einem Tag Anfang Juni mit meinem Fahrrad vor einer roten Ampel an einer belebten Kreuzung stehen. In den Bäumen hinter einer roten Mauer links neben mir singt morgens um neun Uhr eine Nachtigall. Lauthals, klar und unüberhörbar. Es hat auch Vorteile, einer ebenso zahlreichen, wie weitgehend ignorierten Bevölkerungsgruppe anzugehören. Die jenseits des Erwerbslebens Existierenden können sich so in all ihrer Vielfalt austoben, ohne dass es Shitstorms oder andere weithin sichtbare Unannehmlichkeiten auslösen würde. Wenigstens, solange die gesellschaftlichen Kosten sich in Grenzen halten. Diese „Restlebenszeit“ nach eigenem Gutdünken zu verbringen ist der Luxus des Alters, sofern man ihn sich leisten kann. Allen Schreckensmeldungen zum Trotz funktioniert das für die Mehrheit der über 65-Jährigen in Deutschland. Sie können sich das bis zu ihrem Lebensende einigermaßen autonom erhalten. Eingeschränkt wird die Autonomie aber durch einseitige Altersbilder und gesellschaftliche Ignoranz. Um das sichtbar zu machen und zu verändern, haben in Berlin kluge alte Menschen in jahrzehntelangem beharrlichem Verhandeln 2006 das Seniorenmitwirkungsgesetz erstritten. In den vergangenen 11 Jahren wurde es dreimal novelliert. Doch ein Konflikt, der von Anfang an darin enthalten war, wurde bis heute nicht beseitigt: Das Gesetz definiert zwei Arten von Seniorenvertretung auf Landesebene mit überschneidenden Aufgabenfeldern. Die eine ist die Landesseniorenvertretung Berlin (LSVB), die aus den 12 Vorsitzenden der gewählten und bestellten, ehrenamtlich tätigen, bezirklichen Seniorenvertretungen besteht. Laut Gesetz unterstützt die LSVB "die Arbeit der bezirklichen Seniorenvertretungen und vertritt deren Interessen auf Landesebene". Die andere heißt Landesseniorenbeirat Berlin (LSBB), besteht aus den zwölf Vorsitzenden der bezirklichen Seniorenvertretungen (also der LSVB) und bisher zwölf, nun 13 Vertreter*innen von Verbänden der Seniorenarbeit. Der LSBB soll laut Gesetz Abgeordnetenhaus und Senat in seniorenpolitischen Fragen beraten. Warum es zwei sein mussten, ist angesichts der Überschneidungen kaum verständlich. Folgerichtig schien die Kooperation von LSV und LSBB auch mit gemeinsamer Geschäftsstelle in den letzten zehn Jahren nicht besonders harmonisch und gleichzeitig einigermaßen schwerfällig. Die letzten Wahlen haben Veränderungen möglich gemacht. Für einen Augenblick war es spannend sich auszumalen, was sich dort entwickeln könnte. Was geschah, lag jenseits der Erwartungen. Ende März 2017 fanden die Wahlen der bezirklichen Seniorenvertretungen statt. Nachdem alle durch ihre zuständigen Stadträte bestellt worden waren, konnte sich im Mai die Landesseniorenvertretung konstituieren. Laut Homepage fand man sich am 19.5. auf Einladung der zuständigen Senatorin Elke Breitenbach erstmalig zusammen und wählte den neuen Vorstand. Die Senatorin stellte bei diesem Anlass fest: „Die Landesseniorenvertretung ist eine starke Stimme für die Interessen der Berliner Seniorinnen und Senioren. Vor der Landesseniorenvertretung und dem Senat liegen wichtige Aufgaben: Wohnen im Alter, Treffpunkte im Kiez, gute Gesundheits- und Pflegeangebote.“ Warum schreibt Frau Breitenbach der Landesseniorenvertretung hier Aufgaben des Landesseniorenbeirates zu? Natürlich sind es auch die Interessen der bezirklichen Seniorenvertretungen, deren Arbeitsbedingungen, Akzeptanz und Unterstützung von Bezirk zu Bezirk je nach örtlicher politischer Prioritätensetzung höchst unterschiedlich und auf Landesebene oft nicht einmal im Detail bekannt sind. Selbst untereinander mochten sie das in den letzten fünf Jahren selten offen diskutieren. Aus Sorge, dass Bezirkspolitiker und -Verwaltungen am Ende allen den niedrigsten Standard für ihre Arbeitsbedingungen bescheren würden. In einem ebenso bemerkenswerten wie grotesken Wahlverfahren wurde einige Tage später der Vorstand des Landesseniorenbeirates gewählt. Vorsitzende wurde nach drei Pattwahlgängen infolge des Verzichtes der zweiten Kandidatin auf die Teilnahme an einem vierten Wahlgang dann endlich mit absoluter Mehrheit eine Verbandsvertreterin. Nach eigener Erklärung verfügt sie über viel Enthusiasmus, aber kaum Kenntnis von Struktur, Aufgaben und Arbeitsweise der Berliner Seniorenmitwirkungsgremien. Zwei weitere der insgesamt fünf Vorstandsmitglieder wurden in ihren Funktionen als Stellvertreterin und Finanzverantwortlicher bestätigt. Wie schon in der Vorwoche bei der Vorstandswahl für die Landesseniorenvertretung wurde auch im LSBB-Vorstand die Schriftführung nicht besetzt, da niemand sich dazu bereit erklärte. Die Vorsitzende der LSVB, Dr. Hambach, ist qua Gesetz Mitglied auch dieses Vorstandes und somit dort die einzige Seniorenvertreterin unter lauter Verbandsvertreter*innen. Der neue Landesseniorenbeirat mit Frau Senatorin Elke Breitenbach Foto LR 24.5.2017 Erst fünf Tage danach gab die zuständige Senatsverwaltung eine Pressemitteilung zur Konstituierung des LSBB und der Wahl seines Vorstandes heraus. Darin verweist die Senatorin auf die bevorstehende Zusammenarbeit: „ In den kommenden Jahren wird sich der Berliner Senat mit den Seniorenmitwirkungsgremien gemeinsam um ein soziales Berlin kümmern“.
Wer ist nun wofür zuständig? Noch gilt das gerade novellierte Mitwirkungsgesetz mit seinen Aufgabenzuordnungen für die beiden Gremien. Will die Senatorin das Gesetz klammheimlich außer Kraft setzen und der LSVB die Aufgaben des LSBB zugestehen? Dessen Vorstand dürfte auf längere Zeit nicht handlungsfähig sein, hat doch die neue Vorsitzende nach ihrer Wahl verkündet, nun erst einmal in Urlaub zu gehen. Außer der Vorsitzenden der Landesseniorenvertretung gehören alle weiteren Vorstandsmitglieder Verbänden an. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse stellt sich die Frage wessen Interessen sie dort wie vertreten können wird. Könnte sie es schaffen, in solcher Konstellation den LSBB überflüssig zu machen und die LSVB zum allein handelnden Seniorengremium der Stadt zu ermächtigen? Eine solche Aufgabenübernahme könnte trotz Geschäftsstelle eine Überforderung des LSVB darstellen, sind doch seine durchweg ehrenamtlichen Mitglieder zu einem großen Anteil neu im Amt und alle mit der Teambildung und Aufgabenfindung in ihren Bezirken beschäftigt. Abgesehen von den Vorsitzendenfunktionen war das Interesse der Seniorenvertreter*innen an der Arbeit auf Landesebene eher mäßig. Bei beiden Gremien gelang es nicht, im ersten Anlauf auch die Position der Schriftführung zu besetzen, die per se mit Arbeit verbunden ist. Thematische Arbeitsgruppen, wie sie der alte LSBB für die Sacharbeit hatte, sind ohne das Fachwissen und Arbeitspotenzial der professionell arbeitenden Verbändevertreter vermutlich ebenfalls schwer zu organisieren. Angesichts dessen scheint r2g viel Luft und schwache Gegenüber zu haben für die Umsetzung ihrer in der Koalitionsvereinbarung genannten vielfältigen seniorenpolitischen Ziele. Und es bleibt spannend, wer am Ende was erreichen kann im Interesse der Berliner Senior*innen. Eines hat David Ensikat in seinem klugen Artikel am 21.12.2016 im Tagesspiegel nicht benannt. Vielleicht weiß er es auch nicht, weil er nie eine Stelle im öffentlichen Dienst auf der „guten Seite der Macht“ angetreten hat. Auf dem Fragebogen des Arbeitgebers erklärt man auch das Einverständnis, dass derselbe in die Stasiakten Einblick nehmen und danach über das weitere Bestehen des Arbeitsverhältnisses entscheiden kann. Ob und wenn nicht, warum die HU darauf verzichtet hat, sollte mindestens bei der nun fälligen Entscheidung eine Rolle spielen.
Interessant wäre auch die Frage, gegen welche Sorte Mensch in der Vergangenheit in deutschen Landen Berufsverbote ausgesprochen wurden - nie gegenüber Systemkonformen. Das jedoch scheint mir der wesentlichste Unterschied zu sein zwischen der Zeit von Lübke/Kiesinger und heute – die Selbstgerechtigkeit und Häme gegenüber Verlierern hält sich nur dann in Grenzen, wenn alle glauben, Verlierer zu sein. Der Vergleich ist tabu: Die Bundesrepublik Deutschland hatte mindestens zwei Bundespräsidenten mit Nazi-Vergangenheit. Wie man nachlesen kann, haben diese Herren durchaus beschönigende Erklärungen für ihre berufliche Entwicklung bis in Führungspositionen dieses Regimes abgeben dürfen. Das hat 10 bzw. 16 Jahre nach dem Untergang des Dritten Reiches weder ihre Berufung in das höchste politische Amt der Bundesrepublik Deutschland verhindert, noch hat es zu vorzeitiger Ablösung geführt oder gar das Amt beschädigt.
Es ist auch keinen Aufreger wert, wenn eine Historikerkommission bei der Untersuchung der Geschichte des Bundesjustizministeriums zu dem Schluss kommt: „1966 waren 60 Prozent der Abteilungsleiter und 66 Prozent der Unterabteilungsleiter ehemalige Mitglieder der NSDAP“. Immerhin gab es so etwas wie „Entnazifizierung“, der damals viele Regimeanhänger unterzogen wurden, auch ein Herr Kiesinger. Was anscheinend einer der Gründe war, weswegen nur verurteilte Naziverbrecher nicht wieder in öffentliche Funktionen gelangen konnten. Wobei genau die Geschichte des bundesdeutschen Justizsystems dazu führte, dass so wenig und so zögerlich überhaupt verfolgt und angeklagt wurde. Eine „Entstasifizierung“ gab und gibt es nicht. Einmal Stasi, immer Stasi. Auf ewig Berufsverbot für bestimmte Funktionen und Aufgaben in Deutschland? Auch 20 Jahre nach dem Untergang der DDR sollte ein Wissenschaftler, der zum Zeitpunkt dieses Untergangs 19 Jahre alt war und damals in der Spur seines Vaters lief, seinem potenziellen Arbeitgeber die Art seiner Verstrickung nicht zu genau beschreiben, wenn er nicht von vornherein lieber auf eine wissenschaftliche Karriere im Ausland setzen möchte. Das Tabu hat zwei Gesichter. Das westdeutsche ist ein auf Verdrängung und Vergessen beruhendes. Die ostdeutsche Sicht kommt aus der Unvergleichbarkeit dieser beiden Diktaturen. Mauerbau, Stasiknast, Rundumbespitzelung waren übel und haben dennoch in dieser Sicht sehr andere Dimensionen als KZ, Gestapo, Holocaust und Weltkrieg. Schon deshalb darf ein Staatssekretär Andrè Holm sich nicht in Relation zu Bundespräsidenten wie Lübke und Kiesinger setzen. Die, die das könnten, betrachten lieber ihr Glashaus als Bunker, aus dem sich sicher schießen lässt. Cui bono? Gelogen wurde schon immer und überall. Nie hat es ein Zeitalter in der menschlichen Geschichte gegeben, wo nicht die jeweiligen Mittel und Möglichkeiten genutzt wurden, Menschen zu manipulieren durch die Verbreitung von Gerüchten, Halbwahrheiten, zweckdienlichen Deutungen bis hin zu nackten Lügen und dem wegweisenden Fingerzeig auf den "Anderen", DEN LÜGNER. Hunderte von Geschichten über die Manipulation öffentlicher Meinung zum Nutzen Mächtiger mit den schrecklichsten Folgen können uns die Historiker vom Altertum bis heute berichten. Wieso wird ausgerechnet jetzt das Zeitalter des Lügens deklariert? Warum wird diese Deklaration so einhellig von anscheinend ernst zu nehmenden Wissenschaftler*innen und Autor*innen, ja, sogar von solchen Institutionen übernommen und legitimiert, die sich mit Worten und Begriffen auseinandersetzen? Vor kurzem wurde das englische „post-truth“ zum „International Word of the Year 2016" gekürt. In politischen und gesellschaftlichen Diskussionen gehe es zunehmend um Emotionen anstelle von Fakten, erklärte nun auch die Gesellschaft für deutsche Sprache und ernannte das frei übersetzte „postfaktisch“ als Wort des Jahres 2016. Das Wictionary unterlegt „postfaktisch“ mit der Bedeutung: „auf Gefühlen, nicht auf Tatsachen beruhend“, benennt als Synonyme „gefühlsmäßig, populistisch, unsachlich“ und als Gegenwörter „faktisch, auf Fakten beruhend“. Da werden Lügen zu Gefühlen und Wahrheiten zu Fakten. Welche Fakten? Wie oft ist es schon geschehen, dass die andauernde massenhafte Wiederholung von immer derselben Lüge durch „Autoritäten“ folgenreich Glaubwürdigkeit gewann? Seit über 30 Jahren beobachten seriöse Wissenschaftler weltweit, dass der Mensch das Klima dieser Erde unumkehrbar verändert. Vor 25 Jahren hörte ich einen Bericht im Radio, dass wir die von den Emissionen dieser Zeit ausgelösten Klimaveränderungen aufgrund der Trägheit des Systems Erde etwa 30 Jahre später spüren würden. Heute saufen ganze Inselgruppen ab, weil der Meeresspiegel steigt, der Nordpol droht eisfrei zu werden. Fast jedes Jahr ist die Jahresmitteltemperatur höher als die des Vorjahres und ein demokratisch gewählter Präsident kann den Klimawandel als chinesische Lüge seinen Wählern glaubwürdig verkaufen. Fakt ist, dass diese in sich verlogene Wortblase „postfaktisch“ mitsamt ihrer irreführenden Deutung tatsächlich Gefühle bei mir auslöst und zwar ziemlich heftige. Ich fühle mich nicht ernst genommen, veralbert, absichtsvoll belogen und schließlich einigermaßen verärgert. Und die Märchenerzählerin sieht die modernisierte Neuauflage von „Des Kaisers neue Kleider“. Was immer wichtige Menschen in den Tagen nach der Kür dieses schillernden Begriffes von sich gegeben haben, erklärt Lüge zum Schicksal, verstellt klare Blicke auf Ursachen und führt von diffusen Warnungen, „Gefahren ernst zu nehmen und Vorkehrungen zu treffen“ über die Sehnsucht nach der „letzten Guerillawaffe …, der Nostalgie“ bis hin zu den üblichen absurden Verbotsforderungen. Postfaktisch verlogen wird den Konsument*innen von Massenmedien der Eindruck vermittelt, dass Gefühlen per se nicht zu trauen sei, weil sie zu irrationalen Reaktionen führten. Wie zum Beispiel der Wahl eines Donald Trump, der bei genauem Hinsehen die Lüge als Person verkörpert. Der in höchstem Maße Repräsentant eines verlogenen Etablishments ist, machtgeil, gierig, menschenverachtend. Einer, der verkörpert, das er zu bekämpfen vorgibt, wohl wissend, dass er einzig den Interessen einer kleinen Gruppe folgt. Der Geldelite, die die Macht des Geldes nutzt, um die regulierende Wirkung demokratischer Regierungen abzuschaffen und für ihren kurzfristigen Profit das Bild unseres Planeten nachhaltig verändern will (Dark Money, Jane Meyer). Eine Wahl, deren irrationaler Erfolg der gezielten Manipulation von Wähler*innen, abgestimmt auf ihre jeweiligen und spezifischen Haltungen, Ängste und Bedürfnisse über Big Data zugeschrieben wird. Postfaktisch naiv wird aber auch angenommen, dass der klare Menschenverstand und die persönliche Entscheidungsfreiheit Einzelner genügen könne, der Manipulation durch Fakemeldungen in „sozialen“ Medien wirksam zu widerstehen. Ausgeblendet werden die Entwicklungen im Mediensektor, die zunehmend gründliche Faktenrecherchen verhindern mit der Notwendigkeit schneller Wirksamkeit von Meldungen und miserabler Zeilenhonorare. Die Oberflächlichkeit, Einseitigkeit, die unreflektierte Wiedergabe weißer Lügen wird damit ebenso befördert, wie grobe Fälschung mit ungeheuerlichen, total unberechenbaren Folgen (z.B. „Pizza Gate“). Ein Teufelskreis, großartig verstärkt durch die Hinweise auf die „Anderen“, z.B. den deklarierten neuen alten Feind. So sollen es die Russen sein, die hacken und gezielt Halbwahrheiten leaken, und es ist „der Populismus als Folge einer 15jährigen Sozialisation der Bevölkerung durch Online-Shopping“. What the f...! Angst und das Gefühl von Hilflosigkeit, der Ärger, belogen zu werden, sind starke Gefühle, die Menschen anfällig machen für gezielte Manipulation ihrer Entscheidungen. Wie gesagt, gelogen wird schon immer und Menschen, die durch die politischen Lügen und verlogenen Euphemismen auch der letzten Jahrzehnte betroffen sind, kann man allerorten finden. Vom konstanten Weiter-So ist alltäglich in den Zeitungen zu lesen. Wissenschaft hat ihre eigene Sprache, davon kann auch die Laiin Lieder singen. Ein geschmeidiges Fremdwort für eine simple Sache verleiht einer absurden Behauptung Gewicht und Glaubwürdigkeit. Da wird dann ein „Fakt“ kreiiert. Das wird vollends ver-rückt, wenn die Kreation aus dem Englischen übersetzt wird. Was kommt denn nach der Wahrheit - post truth? Die wörtliche Übersetzung wäre zu plump, zu durchsichtig. Und so applaudiert die deutsche wissenschaftliche Gemeinschaft hingerissen und wiederholt andächtig den schönen neuen Begriff, reflektiert und interpretiert neu und phantasievoll aus vielen Perspektiven. Nur geradeaus mögen anscheinend wenige denken – zu einfach, zu schade um eine schöne neue schillernde Vokabel. Postfaktisch. Auch hier in Deutschland greift die in den USA seit Jahren immer stärker angewandte Praxis um sich, immer zwei – gegensätzliche – Meinungen zu einem Phänomen gleichrangig nebeneinander zu stellen. Aktualitätszwang und Zeitdruck verbieten dann oft genug die gründliche Prüfung von Quellen, dann stehen seriöse Forschungergebnisse gleichberechtigt neben gefälschten. Wenn mir jemand, dem ich aufgrund meiner Erfahrungen glaube, vertrauen zu können, eine von ihm zertifizierte Münze in die Hand drückt, deren eine Seite das durch gründliche Recherche objektiver Quellen aus Wissenschaft und Forschung geprägte Bild enthält und auf dessen anderer Seite im Namen der Meinungsfreiheit ein gefälschtes, durch gefälschte Studien aufgebautes Image steht – was geschieht, wenn mein so irritierter Verstand und mein betrogenes Gefühl mich dazu anhält, die Münze zu werfen? Aufgrund dessen, was sich mir dann zeigt, zu reagieren? Ich bin ein Produkt des postfaktischen Schulsystems der DDR der frühen Jahre. Da mein Vater Rundfunkmechaniker war und ich zwar in Sachsen, aber nicht im „Land der blinden Augen“ aufwuchs, hörte ich die postfaktischen Gewissheiten der DDR im Unterricht, der ja in jedem Fach den Bezug auf „unsere Gegenwart“ herstellen sollte, sowie in Zeitungen und Fernsehsendungen. Zusätzlich vernahm ich (Post)Fakten der BRD auf dem Fernsehschirm und im Radio. Geradezu grotesk erschienen da die Interpretatoren der jeweiligen Gegenseite – des Schwarzen Kanals des Karl Eduard von Schnitzler und des ZDF-Magazins des Gerhard Löwenthal. Was mir in diesen bunten Mischungen zweckdienlicher Halbwahrheiten, tendenziöser Behauptungen, Interpretationen, Fakten und Bilder neben den eigenen Alltagserfahrungen einigermaßen hilfreich war, kam aus dem Unterricht, den mir dieses Schulsystem angedeihen ließ. Es war die dialektische Frage: „wem nutzt es?“
Ich habe einen Wunsch an die Jury der „Sprachkritischen Aktion: UNWORT DES JAHRES“: Bitte scheuen Sie nicht den erneuten Konflikt mit der Gesellschaft für deutsche Sprache! Bitte wählen Sie „postfaktisch“ als Unwort des Jahres 2016, weil es euphemistisch, verschleiernd und irreführend ist, weil es hilft, machtvoll propagierte (politische) Lügen als „Gefühle“ zu maskieren, das Geschehen als schicksalhaft und unwiderstehlich darstellt und damit selbst wirksames Instrument der verlogenen Manipulationen öffentlicher Meinung ist. Das könnte hilfreich sein. „Ich wähle CDU“ verkündete er mir 1990, bei den ersten demokratischen Wahlen in Ostdeutschland. „Nur die haben das Geld, diese ungeheuerlichen Umweltsauereien zu beseitigen“. Die blühenden Landschaften wurden realisiert. Über viele Jahre war es die konsequente Stillegung vor allem der sächsischen Industriekombinate, die den CO2-Ausstoß der Bundesrepublik Deutschland rapide senkte. Gleichzeitig schuf die Einführung bundesdeutscher Standards in Sachen Verlagerung kommunaler Kosten für Strom, Abwasser, Straßenbau und -Erhaltung auf Grundstückseigentümer und -Pächter gerade im ländlichen Raum vielfältigen Druck auf ländliche Hauseigentümer. Die Professionalität westlicher Bau- und Entsorgungsunternehmen in Akquise und Verkauf überdimensionierter und überteuerter Lösungen tat ein Übriges. Hilflos wehrte sich mein sächsischer Bruder gegen die Einordnung des gesamten von ihm genutzten Grundstücks in Bauland und entsprechend berechnete ruinöse Abwasserpreise. „Man muss diesen korrupten Politikern aller sogenannten demokratischen Parteien die Kante zeigen“, sagte er 1994 und wählte NPD – als einzige „Protest“partei. Unsere Beziehung ist nicht so, dass ich als kleine Schwester eine Chance hätte, meinen älteren Bruder zur Wirkung solchen Protestes zu beraten. Zumal er dazu neigt, Frust und Enttäuschung unter beißendem Zynismus zu begraben. So habe ich nicht gefragt, ob er beim letzten Mal AfD oder garnicht mehr gewählt hat. Diverse Hauptstadtmedien kommentieren derzeit mit leiser Häme, dass die Piraten anteilig am meisten Wähler*innen an die AfD verloren hätten. Man muss genauer oder mehrere Zeitungen lesen, um zu sehen, woher die Wähler*innen letzterer kamen. In der Reihenfolge der absoluten Zahlen sind das bisherige Nichtwähler, Sonstige, CDU, SPD, Linke, Piraten, FDP, Grüne. Bedenkt man, dass die Piraten 2011 eher das Protestpotenzial junger und gut gebildeter Menschen mobilisierten, spricht es für sich, dass sie nun in weit höherem Maße Stimmen an Linke, Nichtwähler und Grüne abgaben.
Vollends grotesk jedoch ist die „Wahlsieg-Formel“ der Morgenpost. Hier werden parallele Erscheinungen als Ursache/Wirkung dargestellt. Statistiker kennen das putzige Beispiel der Korrelation von Storchenwanderung und Geburtenhäufigkeit in Skandinavien, das als „faszinierender“ Beweis der Behauptung dienen könnte, dass der Klapperstorch die Kinder bringt. Fatal ist, dass der hier hergestellte Zusammenhang zwischen Ossie und Wahlmehrheiten die Suche nach realen Ursachen verhindert und Ossies in die gewohnte Ecke der Unbelehrbaren stellt. Keine gute Voraussetzung für positive Veränderungen. In die gleiche Kerbe haut die Berichterstattung zum gerade veröffentlichten „Bericht zur deutschen Einheit“. Da werden 104 Seiten Bericht reduziert auf die simple Aussage: „Fremdenhass schadet der Wirtschaft im Osten“. Wer schützt uns vor den Folgen der groben medialen Vereinfachungen, die am Ende in so schlichten wie absolut kontraproduktiven Schuldzuweisungen hängen bleiben? Und auf der anderen Seite mit adäquaten Vereinfachungen "Lügenpresse" beantwortet werden. Ist es wirklich zu vernachlässigen, dass drei der sieben Bezirke Berlins, in denen die AfD einen Stadtratsposten erhalten kann, Westbezirke sind? Alle aber liegen am Stadtrand, wohin seit Jahren die ziehen (müssen), die sich die wachsenden Mieten in den Innenstadtbezirken nicht mehr leisten können. Und es sind auch Außenbezirke, wo Menschen ähnliche Erfahrungen wie mein sächsischer Bruder machen mussten. So frustrierend das Wahlergebnis in Berlin in einer Hinsicht sein mag, es bringt Bewegung in die Politik. Auch wenn Berlin auch hier wieder Spiegel der gesamtdeutschen Entwicklungen seit 1989 ist, sind die Aufgaben vor Ort und nur in der ganzen Stadt zu lösen. Anders als in Gesamtdeutschland, wo in Baden-Württemberg die AfD vor wenigen Monaten 15,1% (!) der Stimmen bekam und die Erregung darüber durch die Ergebnisse in Mecklenburg-Vorpommern rasch aus den bundesdeutschen Medien verdrängt wurde, funktioniert das in Berlin hoffentlich nicht mit solcher Abspaltung. Berlin ist in aller Wiedersprüchlichkeit eine großartige Stadt. Es ist zwölf sehr benachbarte und sehr unterschiedliche, verbundene Städte im Wechselspiel mit vielen Möglichkeiten. Was ich mir wünsche von der bunten Mischung, die nun die neue Berliner Regierung bilden wird: Die Stadt verdient eine konstruktive, transparente Politik, die die Interessen der Vielen offen einbezieht. Möge es gelingen, in den nächsten fünf Jahren zu verhandeln, zu beteiligen, auszudiskutieren im Interesse der vielen so unterschiedlichen Menschen, die hier leben. Jenseits von Parteiprofilierungen, platten Konfrontationen, schlichten Schuldzuweisungen, einseitiger Machtpolitik. Es könnte zum Beispiel werden für das ganze Land. Drei Tage Amsterdam im Sommer. Nach zwei Stunden gemächlichen Radelns entlang der Grachten, über Kreuzungen und Brücken, durch Haupt- und Nebenstraßen der Innenstadt sitzen wir in einem Café - natürlich mit Blick auf einen Kanal. Wir schauen auf das Gewusel von Fußgängern und Radfahrern, Touristen und Einheimischen, die da kreuz und und quer und friedlich ihre Wege aneinander vorbei und umeinander herum finden. Ohne Missmut, heiter und gelassen. Es gibt wenig Herrenräder, ein paar mit allen Schikanen, kein E-Bike und viele ziemlich altmodische Räder, nur mit Rücktritt und ohne Gangschaltung und ganz wenig Autos. Und so viele Fahrradparkplätze, angesichts derer ich mich frage, wie ich dort meines in der schieren Menge wiederfinden würde. Was mir auch auffällt, sind die Elektrotanksäulen in den Grachten. Ich sehe wenig Verkehrszeichen oder Verbotsschilder, abgesehen von gelegentlichen Hinweisen auf Abstellverbote für Fahrräder. Selbst die wirklich nervigen Motorroller werden auf den breiten Radwegen achselzuckend vorbei gelassen, obwohl sie eigentlich dort nichts zu suchen hätten. Ich versuche mir vorzustellen, einen Gast per Fahrrad durch Berlin zu lotsen und spüre sofort meine mühsam gebremste Aggression angesichts überbordender Bauzäune und Schmutzhaufen, oft nicht vorhandener, unterbrochener oder zugeparkter, holpriger schmaler Radwege. Auch angesichts der alltäglichen bedrohlichen Enge zwischen Straßenbahngleisen, haarscharf überholenden und parkenden Autos. Der Unterschied zwischen den beiden Städten ist augenfällig. Amsterdam erlebe ich als entspannt, gelassen, locker in diesen heiteren Sommertagen. Auch im dicksten Durch- und Miteinander ist kaum Hupen, Schimpfen und keinerlei Aggressivität wahrzunehmen. Berlin mit seinem schnodderigen „is' mir egal“ ist wurschtig mit mehr oder weniger unterschwelliger Aggression. Es gibt so viele Regelungen und Verkehrsschilder, Ge- und Verbote und so wenige, die auf deren Einhaltung achten. Und es ist diese machtvolle Hierarchie zwischen Autos, Fahrrädern und Fußgängern, unterschiedlichen Geschwindigkeiten mit entsprechenden Raumzuweisungen. Es ist schon grotesk, wenn die Gegner der Initiative für den Fahrradvolksentscheid nun eine „einseitige Bevorzugung“ einer Art der Fortbewegung in der Stadt befürchten. Selbst mit einem Erfolg der Initiative wäre Berlin noch Jahrzehnte entfernt von einer so gleichberechtigten, entspannten Teilhabe am städtischen Raum, wie man sie in Amsterdam erleben kann. Vielleicht sollte Berlin ein paar Hauptstraßen ausbaggern und in Kanäle umwandeln.
Ohnmacht, Zorn, Ratlosigkeit – und die Suche nach Sinn, das sind meine Gefühle und Reaktionen angesichts der Ereignisse der letzten Tage. Was treibt einen Menschen, sich einen LKW zu mieten und wild um sich schießend wehrlose, feiernde, ungekannte Menschen tötend zu überrollen? Was treibt einen jungen Schwarzen, gezielt Polizisten zu erschießen, so viele wie möglich? Was treibt andererseits Polizisten, seit Jahrzehnten immer wieder wehrlose Schwarze zu erschießen? Was treibt meist männliche Menschen weltweit, Amok zu laufen und jeweils möglichst viele Unbekannte in den Tod zu reißen, bevor sie sich selbst töten oder töten lassen? Was treibt andererseits die Bundeszentrale für politische Bildung zu solcher Reduktion: „Selbstmordattentate sind zu einem Synonym für islamistischen Terror geworden. Wo liegen die Wurzeln dieses Phänomens, wer sind die Attentäter? Wie ist das Verhältnis der islamischen Religion zu dieser Form von Gewalt?“ Was ist denn unser Verhältnis, das der Mächtigen oder das der Waffenproduzenten in aller Welt zu Selbstmordattentaten? Sind es nicht auch die einfachen Erklärungen derer mit Deutungs- und Gestaltungsmacht, die die Spirale der Gewalt in Drehung halten, den Sog verstärken? Es scheint mir unendlich schwer, das so unerträgliche Gefühl der Hilflosigkeit nicht in hilflosen Zorn, in wilde Aggression auswachsen zu lassen. Ich bin zornig auf Politiker, die demokratische Rechte schrittweise einschränken, die sich einerseits über die Überwachungsmethoden eines zu Recht untergegangenen Systems erregen und deren moderne Datenlager über jegliche Bürger_innen täglich ungeheuerlich anwachsen, offen für Gleichgesinnte. Es macht mich zornig, genau diese Politiker angesichts der Attentate beteuern zu hören, dass „wir uns nicht in unserem freien Leben einschränken lassen“. Es scheint mir eine makabre Choreografie für ein pas de deux von Ängsten und Gewalt, das in diesem Wechselspiel von Ausgrenzung, Demonstration von Macht und Hilflosigkeit, einseitigen Interpretationen und Terror abläuft. Ein Erdogan hat die Macht und die Apparate, Menschen anderer Meinung mit Beleidigungs- und Verleumdungsklagen zu überziehen, Bomben auf Mitbürger werfen zu lassen, sich schrittweise zum – demokratisch gewählten – absoluten Herrscher über Menschen, über Richtig und Falsch zu erklären. Er hat die Macht, einen Putschverantwortlichen zu definieren, per Email an (?) alle türkischen Bürger_innen Unterstützung zu suchen und die Loyalität der Vielen zu missbrauchen, um gründlich zu „säubern“. Egal, ob die der „Säuberung“ Unterzogenen am Putsch beteiligt sind oder nicht. Angesichts der Komplexität des Geschehens scheint es immer wieder logisch und richtig, von vielen möglichen Übeln das kleinere zu wählen; für den zu demonstrieren, der Demonstrationen seit langem gewalttätig unterbindet; sich solidarisch mit dem zu erklären, der konsequent nur die eigenen Machtinteressen vertritt. Nährt sich die Stärke der Einen von der Schwäche der vielen? Gibt es Alternativen?
Wem nutzt es, wenn die Gewaltspiralen sich immer weiterdrehen? Neben all den raschen Deutungen gibt es immer wieder solche, die den Bogen weiter spannen mit offenen Fragen. Kann man den Terror des IS nur mit Bomben beantworten? Ist der IS das Problem oder eine Folge von anderem? Ist radikaler Islamismus aus sich selbst heraus entstanden? Die einzige Art von Radikalismus? Auf welche Fragen antworten die Nachahmer der Mordstrategien des IS mit ihren so einsamen wie entsetzlichen Taten? Sind sie schlicht Psychopathen, die wenigstens einmal in ihrem Leben Macht über Leben und Tod ausüben wollen, weil sie eben so sind? Oder sind sie Marionetten in Systemen, die ihresgleichen produzieren? Die den jeweils gegebenen Mustern folgen? Was geschieht, wenn Gewalt als einzige Antwort auf Gewalt erklärt und ausgeübt wird? Ich fühle mich terrorisiert: Von „Sachzwängen“, von „Zeit/Entscheidungs/Handlungsdruck“, von Ausgrenzungen, von voyeuristischen Bildern der Gewalt, einseitigen Interpretationen, absichtsvollen Umdeutungen, Machtmissbrauch, Rechthaberei und ihren Folgen. Von Verweigerungen – zu verhandeln, zuzuhören, hinzuhören, von den einfachen Antworten. Von Gefühlen von Angst und Hilflosigkeit, die aus all dem erwachsen, den angedienten Perspektivlosigkeiten, dem Tunnelblick auf unsere wunderbare und so vielfältig bedrohte Welt. Ich will Alternativen. Offenheit, für das, was auch ist. |
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Juni 2019
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